Nach neuer Rechtslage kann nach Abschluss der ersten Ausbildung eine weiterführende Ausbildung noch als Teil der Erstausbildung gelten, wenn aufgrund objektiver Beweisanzeichen erkennbar ist, dass das Kind sein angestrebtes Berufsziel noch nicht erreicht hat (sog. mehraktige Ausbildung). Abzustellen ist dabei darauf, ob die weiterführende Ausbildung in einem engen sachlichen Zusammenhang mit der nichtakademischen Ausbildung oder dem Erststudium steht und im engen zeitlichen Zusammenhang durchgeführt wird (BFH-Urteil vom 15.4.2015, V R 27/14; BMF-Schreiben vom 8.2.2016, BStBl. 2016 I S. 226).
Auch wenn mit der "mehraktigen Ausbildung" der Begriff der Erstausbildung für Zwecke des Kindergelds und Kinderfreibetrags ganz erheblich ausgeweitet wird, so bleibt der Begriff der "richtigen" Erstausbildung für Zwecke des Werbungskostenabzugs unberührt. Hier liegt ab 2015 eine Erstausbildung vor, wenn die Ausbildung in einem geordneten Ausbildungsgang mindestens 12 Monate in Vollzeit dauert und mit einer Prüfung abgeschlossen wird (§ 9 Abs. 6 Satz 2 EStG). Während der danach folgenden Zweitausbildung können die Kosten in voller Höhe als Werbungskosten abgesetzt werden, und ein Verlust kann auf das jeweils folgende Jahr vorgetragen werden.
Die Finanzverwaltung hat ausdrücklich klargestellt, dass die kindergeldrechtliche Rechtsprechung (ab 2015) anzuwenden ist und es dabei unerheblich ist, ob die Berufsausbildung bzw. das Studium die besonderen Voraussetzungen für eine Erstausbildung gemäß § 9 Abs. 6 EStG erfüllen. Folglich wird der Gleichklang der "Erstausbildung" beim Kindergeld und beim Werbungskostenabzug durchbrochen (BMF-Schreiben vom 8.2.2016, BStBl. 2016 I S. 226, Tz. 12d).
Hans beendet im Februar 2012 eine Ausbildung zum Elektroniker (Lehre) und bewirbt sich sofort um einen Platz an der Fachoberschule für Technik. Der Besuch dieser Schule ist Voraussetzung für ein Studium an einer Fachhochschule. Er strebt nämlich den Abschluss als Elektrotechniker oder Elektroingenieur an. Die Fachoberschule besucht er ab August 2012.
In der Zwischenzeit von März bis Juli 2012 arbeitet er in Vollzeit in seinem erlernten Beruf zum üblichen Gehalt. Diese Zwischenzeit gilt als Wartezeit auf einen Ausbildungsplatz und ist ebenfalls kindergeldbegünstigt. Im Oktober 2013 nimmt er das Studium an der Fachhochschule auf. Die Familienkasse verweigert das Kindergeld für die Wartezeit wegen der Erwerbstätigkeit.
Der BFH sieht hier eine "mehraktige Berufsausbildung" (Lehre - Fachoberschule - Fachhochschule), die insgesamt eine einheitliche Erstausbildung darstellt. Der erste berufsqualifizierende Abschluss der Lehre stellt noch keine Erstausbildung dar. Die weiteren Ausbildungsmaßnahmen sind Bestandteil eines einheitlichen Ausbildungsgangs. Sie stehen in einem engen sachlichen Zusammenhang zur ersten berufsqualifizierenden Maßnahme und wurden auch innerhalb eines engen zeitlichen Zusammenhangs durchgeführt.
Doch als wäre die Sache nicht schon kompliziert genug:
AKTUELL hat der BFH mit einer ganzen Batterie von Urteilen zu weiteren Sachverhalten Stellung genommen und seine Sichtweise präzisiert - aber leider auch verkompliziert. Letztlich kann festgehalten werden, dass immer dann, wenn ein weiterführendes Studium oder eine weiterführende Ausbildung "nur neben dem Beruf" ausgeübt werden, das Kindergeld versagt wird. Unschädlich sind hingegen Nebenjobs (BFH-Urteile vom 11.12.2018, III R 22/18, III R 2/18, III R 32/17, III R 47/17). Die Sachverhalte, bei denen die Familienkasse jeweils das Kindergeld für die weiterführende Ausbildung versagte, waren unter anderem:
- Fall 1: Der Sohn durchlief zunächst eine Ausbildung zum Bankkaufmann. Danach war er in Vollzeit bei der Bank tätig, bei der er die Ausbildung absolviert hatte. Wenige Monate nach Ende der "Erstausbildung" nahm der Sohn an einer zweijährigen berufsbegleitenden Weiterbildung zum Bankfachwirt teil. Der BFH hat zwar nicht endgültig entschieden, aber doch zu erkennen gegeben, dass er das Kindergeld nicht gewähren wird, weil die Ausbildung zum Bankfachwirt wohl eher als berufsbegleitende Weiterbildung zu werten ist. Die Sache wurde an die Vorinstanz zurückverwiesen.
- Fall 2: Die Tochter absolvierte zunächst eine Lehre zur Bankkauffrau. Bereits kurz nach dem Ende der Ausbildung begann sie ein Studium an einem Berufskolleg mit der Fachrichtung Absatzwirtschaft. Das staatlich anerkannte Studium mit dem Abschluss "Staatlich geprüfte Betriebswirtin" erfolgte in Teilzeitform. Zeitgleich war die Tochter zunächst bei der Bank und etwas später bei einem Autohaus beschäftigt. Die wöchentliche Arbeitszeit betrug jeweils 40 Stunden. Auch hier hat der BFH nicht abschließend entschieden. Die Vorinstanz müsse prüfen, ob das Ausbildungsverhältnis eher dem Beschäftigungsverhältnis untergeordnet war oder umgekehrt das Beschäftigungsverhältnis dem Ausbildungsverhältnis. Wahrscheinlich wird das Kindergeld aber wohl entfallen.
- Fall 3: Der Sohn legte die Prüfung im Ausbildungsberuf Elektroniker in der Fachrichtung Energie- und Gebäudetechnik ab und wurde noch im selben Monat von seinem Ausbildungsbetrieb mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden übernommen. Einige Monate später besuchte der Sohn den zweijährigen Abendlehrgang zum Industriemeister Elektrotechnik IHK. Die Sache wurde an das Finanzgericht zurückverwiesen, das nun prüfen muss, ob die Ausbildung oder der Beruf im Vordergrund standen. Es spricht aber einiges dafür, dass der Beruf im Vordergrund stand und damit kein Kindergeldanspruch besteht.
- Fall 4: Die Tochter schloss ihre Ausbildung zur Steuerfachangestellten ab. Danach wurde sie von ihrem bisherigen Ausbildungsbetrieb in Vollzeitbeschäftigung übernommen. Unmittelbar nach der Prüfung meldete sich die Tochter an der Fachschule für Wirtschaft an, um in der Fachrichtung Betriebswirtschaft (Schwerpunkt Steuern) den Abschluss einer Staatlich geprüften Betriebswirtin zu erreichen. Die in Teilzeit zu absolvierende Ausbildung dauerte 3 1/2 Jahre. Auch in diesem Fall muss das Finanzgericht nach der Zurückverweisung durch den BFH erneut entscheiden und dabei dessen neue Grundsätze berücksichtigen. Wie in den drei vorherigen Fällen ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass die Eltern den Rechtsstreit gewinnen werden.
Allein in drei weiteren Urteilen ging es um das Kindergeld für Töchter, die jeweils nach der Ausbildung zur Verwaltungsangestellten einen berufsbegleitenden Lehrgang zur Verwaltungsfachwirtin absolvierten (BFH-Urteil vom 20.2.2019, III R 42/18; BFH-Urteile vom 10.4.2019, III R 51/18 u. III R 33/18). In sogar sechs Fällen ging es um das Kindergeld für Kinder, die jeweils nach der Ausbildung zur Bankkauffrau/zum Bankkaufmann ein berufsbegleitendes Studium zum Bankfachwirt bzw. ein Finanz- oder Wirtschaftsstudium aufnahmen (BFH-Urteile vom 21.3.2019, III R 12/18, III R 16/18, III R 17/18, III R 40/18 u. III R 50/18; BFH-Urteil vom 10.4.2019, III R 19/18). Und das zehnte Urteil betraf das Kindergeld für einen Sohn, der nach der Ausbildung zum Industriemechaniker und der Meisterausbildung den Aufstieg zum "Geprüften Technischen Betriebswirt" absolvierte (BFH-Urteil vom 21.3.2019, III R 18/18).
Alle Fälle sind zwar an die Vorinstanzen zurückverwiesen worden, damit weitere Sachverhaltsaufklärungen erfolgen. Der BFH hat aber bereits durchblicken lassen, dass das Kindergeld zu versagen sein wird, wenn die Kinder jeweils nebenher in Vollzeit gearbeitet haben und die weiterführenden Ausbildungen gegenüber dem Beruf nicht im Vordergrund standen.
Prüfschema:
Die Rechtsprechung zum Kindergeld bei einem weiterführenden Studium oder einer ergänzenden Ausbildung ist äußerst kompliziert geworden. Folgendes Prüfungsschema kann aber bei der Frage, ob Kindergeld zu gewähren ist, weiterhelfen:
1. Handelt es sich um eine Ausbildung oder um ein Studium, das auf der ersten Ausbildung aufbaut? Falls ja: weiter mit 2. Falls nein, handelt es sich sozusagen um eine andere "Fachrichtung": Kindergeld wird nur gewährt, wenn nebenher keine Erwerbstätigkeit oder eine Tätigkeit von maximal 20 Wochenstunden ausgeübt wird.
2. Besteht ein zeitlicher Zusammenhang zwischen den beiden Ausbildungsabschnitten? Falls ja: weiter mit 3. Falls nein: Kindergeld wird nur gewährt, wenn nebenher keine Erwerbstätigkeit oder eine Tätigkeit von maximal 20 Wochenstunden ausgeübt wird.
Hinweis: Wenn sich Sohn oder Tochter für den nächstmöglichen Ausbildungsabschnitt (z.B. einen Meisterkurs) erst mehrere Monate nach Bestehen der ersten Ausbildung (z.B. der Gesellenprüfung) angemeldet haben, spricht dies nicht gegen eine Verklammerung der Ausbildungsabschnitte (BFH 11.12.2018, III R 32/17).
3. Nutzt das Kind die Qualifikation, die es nach dem ersten Abschluss erlangt hat, bereits für einen Beruf, den es nun auch tatsächlich ausübt? Falls ja: Es deutet vieles darauf hin, dass die weitere Ausbildung nicht mehr Teil einer "Gesamtausbildung" ist. Folge: Kindergeld für die weitere Ausbildung wird voraussichtlich nicht gewährt, da die Berufstätigkeit in den Vordergrund getreten ist. Falls nein: Der Kindergeldanspruch könnte erhalten bleiben, da die weitere Ausbildung im Vordergrund steht. Es ist aber in beiden Fällen eine Gesamtbetrachtung mit Punkt 4 vorzunehmen.
Beispiele:
Wird z.B. ein Geselle oder Kaufmann von seinem Ausbildungsbetrieb im erlernten Beruf übernommen oder nimmt ein Bachelor eine durch diesen Abschluss eröffnete Stelle an, kann dies Indiz dafür sein, dass die Berufstätigkeit in den Vordergrund getreten ist. Denn ein solcher Sachverhalt spricht laut BFH dafür, dass die weiteren Ausbildungsmaßnahmen nur der beruflichen Weiterbildung oder Höherqualifizierung in einem bereits aufgenommenen und ausgeübten Beruf dienen. Nimmt das Kind dagegen eine Berufstätigkeit auf, die ihm auch ohne den erlangten Abschluss eröffnet wäre (z.B. Aushilfstätigkeit in der Gastronomie oder im Handel) oder handelt es sich bei der Erwerbstätigkeit typischerweise um keine dauerhafte Berufstätigkeit (z.B. bei einem Bachelor, der während des nachfolgenden Masterstudiums mit 19 Stunden als wissenschaftliche Hilfskraft tätig ist und daneben 3 Nachhilfestunden pro Woche gibt), kann das für eine im Vordergrund stehende Berufsausbildung sprechen.
4. Ist die Arbeitstätigkeit der weiterführenden Ausbildung übergeordnet und wird die Ausbildung mithin nach ihrem äußeren Erscheinungsbild neben dem Beruf durchgeführt? Falls ja: In der Gesamtbetrachtung mit Punkt 3 wird das Kindergeld wohl entfallen. Falls nein: Das Kindergeld dürfte in der Gesamtbetrachtung mit Punkt 3 erhalten blieben, denn die Ausbildung steht im Vordergrund.
Beispiele:
Wird etwa eine Teilzeittätigkeit von regelmäßig 22 Wochenstunden so verteilt, dass sie sich dem jeweiligen Ausbildungsplan anpasst, ist das ein Indiz für eine im Vordergrund stehende Ausbildung. Gleiches gilt, wenn das Kind etwa während des Semesters maximal 20 Wochenstunden arbeitet, durch eine während der Semesterferien erhöhte Wochenstundenzahl aber auf eine durchschnittliche Arbeitszeit von mehr als 20 Wochenstunden kommt. Arbeitet das Kind dagegen annähernd vollzeitig und werden die Ausbildungsmaßnahmen nur am Abend und am Wochenende durchgeführt, deutet dies darauf hin, dass die weiteren Ausbildungsmaßnahmen nur neben der Berufstätigkeit durchgeführt werden. Schließlich kann auch von Bedeutung sein, ob und inwieweit die Berufstätigkeit und die Ausbildungsmaßnahmen über den zeitlichen Aspekt hinaus auch inhaltlich aufeinander abgestimmt sind.
HINWEIS: Der guten Ordnung halber sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das Gesagte natürlich gleichermaßen für die Frage der Gewährung des Kinderfreibetrages gilt.