Steuerbescheide können aus verschiedenen Gründen vorläufig ergehen. Die Vorläufigkeit betrifft oft spezifische Punkte und erlaubt nicht immer nachträgliche Änderungen zum Nachteil des Steuerpflichtigen. Geregelt ist dies in § 165 der Abgabenordnung (AO).
Im Wesentlichen gibt es zwei Gründe für die Vorläufigkeit:
Grund 1: Das Finanzamt will einen bestimmten Vorgang später noch einmal prüfen oder erhofft sich in der Zukunft Hinweise, die die Würdigung eines Sachverhalts im aktuellen Jahr beeinflussen. Beispielsweise geschieht dies häufig, wenn ein Steuerpflichtiger zunächst hohe Anlaufverluste aus einer (Neben-)Tätigkeit oder aus der Vermietung einer Ferienwohnung erwirtschaftet (§ 165 Abs. 1 Satz 1 AO).
Grund 2: In einer ähnlichen Sache ist ein Verfahren beim Bundesfinanzhof oder beim Europäischen Gerichtshof anhängig oder das Bundesverfassungsgericht prüft, ob eine Norm mit dem Grundgesetz in Einklang steht (§ 165 Abs. 1 Satz 2 AO). Der Vorläufigkeitsvermerk wird dann oft sogar automatisch gesetzt.
Der Vorläufigkeitsvermerk betrifft grundsätzlich nur einen speziellen Punkt des Steuerbescheides und nicht die gesamte Steuerfestsetzung eines Jahres.
Ergeht ein Steuerbescheid nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO vorläufig, weil das Finanzamt bewusst zu erkennen gegeben hat, dass es einen bestimmten Sachverhalt oder Vorgang noch einmal prüfen will, so ist es berechtigt, den Steuerbescheid später auch zu Ungunsten des Steuerpflichtigen zu ändern. Doch gilt dies auch im Falle des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO, also wenn ein Steuerbescheid nur wegen eines ausstehenden Musterverfahrens vorläufig ergeht?
Diese Frage wird demnächst der Bundesfinanzhof in dem Verfahren VI R 14/23 beantworten müssen. Die Antwort könnte durchaus viele Steuerzahler betreffen. Die Vorinstanz, das FG Köln, hatte jedenfalls eine Änderung zulasten der Steuerbürgerin verneint (FG Köln, Urteil vom 12.7.2023, 3 K 1356/22).
Der Fall: Nach der lediglich dreimonatigen Ausbildung als Rettungssanitäterin begann die Klägerin ein Medizinstudium, das in den Jahren 2011 zu 2016 zu erheblichen Verlusten führte. Im Rahmen der erstmaligen Einkommensteuerbescheide für 2015 und 2016 erkannte das Finanzamt diese negativen Einkünfte an, da es offenbar davon ausging, dass mit dem Medizinstudium eine Zweitausbildung vorlag. Dabei galt die nur dreimonatige Ausbildung als Rettungssanitäterin bereits seit dem 1.1.2015 aufgrund des neuen § 9 Abs. 6 EStG nicht mehr als Erstausbildung, so dass das Medizinstudium seit 2015 nicht als Zweitausbildung gelten konnte.
Eine Berufsausbildung als Erstausbildung liegt nach der neuen Gesetzeslage nur dann vor, wenn eine geordnete Ausbildung mit einer Mindestdauer von zwölf Monaten bei vollzeitiger Ausbildung und mit einer Abschlussprüfung durchgeführt wird. Die Bescheide ergingen allerdings gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig “ …. hinsichtlich der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben (§ 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG) …. .“
Damals war noch streitig, ob Kosten für ein Erststudium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben abgezogen werden dürfen. Erst später wurde dies vom Bundesverfassungsgericht verneint und die gesetzliche Regelung als verfassungskonform erachtet. Im Jahre 2021 erkannte das Finanzamt seinen ursprünglichen Fehler und korrigierte diesen zulasten der Steuerpflichtigen unter Hinweis darauf, dass die Steuerbescheide 2015 und 2016 ja ohnehin vorläufig ergangen seien. Doch das durfte es nicht, wie das FG Köln entschieden hat.
Begründung: Der Zweck von § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO erlaubt keine negativen Änderungen an einer für den Steuerpflichtigen vorteilhaften Steuerfestsetzung. Im Streitfall wurde der Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO nur gesetzt, um zu klären, ob die einschränkenden Regelungen der §§ 4 Abs. 9 und 9 Abs. 6 EStG zur Abzugsfähigkeit von Berufsausbildungskosten als vorweggenommene Betriebsausgaben oder Werbungskosten verfassungsgemäß sind und wie das Bundesverfassungsgericht in den laufenden Verfahren dazu entscheiden würde. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hätte nur zugunsten der Steuerpflichtigen sein können.
Es wurde die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Insbesondere fehle es bislang an einer höchstrichterlichen Entscheidung zu der Frage, inwieweit eine nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO angeordnete Vorläufigkeit auch Änderungen zum Nachteil des Steuerpflichtigen gestattet. Wie erwähnt wurde die Revision vom Finanzamt auch bereits eingelegt.